Bücher sind Schiffe des Gedankens,
die wandern auf den Wellen der Zeit
und ihre kostbare Ladung
von eine Generation zur andere Generation
vorsichtig trägt.
Francis Bacon
Ich betrachte meinen Enkel und denke in Oxymoronen**. Der Versuch, meine Gedanken in Worte zu fassen, klingt wohl so: „Ich, eine junge Großmutter, habe einen so erwachsenen, kleinen Enkel, der so furchtbar klug, bis zur Unverschämtheit talentiert und schrecklich schön ist.“ Eine junge Oma bin ich in der Tat. Was ist eine Frau heutzutage schon mit zweiundvierzig Jahren; beinahe ein Mädchen. Schon wieder ein Oxymoron: ein vierzigjähriges Mädchen. Und dieses Mädchen freundet sich bereits fünf schnell vergangene Jahre glücklich mit der Rolle der Großmutter an. Der fünfjährige Enkel Maksim blättert in dem vor ihm auf dem Tisch liegenden Buch, schaut sich höchst aufmerksam die Bilder an. Er konnte schon lange lesen, fast seit einem Jahr. Seine Großmutter hatte schließlich eine riesige Bibliothek, wie hätte er da auch nicht anfangen können zu lesen. Die Bibliothek war im Übrigen wirklich eindrucksvoll. In den Regalen konnte man auf Bücher von Urahnen stoßen. Hier fand man alles: von Kinderbüchern über Belletristik, bis hin zu Memoiren und wissenschaftlichen Abhandlungen. Der Bibliothek war ein ganzes Zimmer von fünfundzwanzig Quadratmetern vorbehalten. Überall standen Bücher; vom Fußboden bis zur Decke, in den Schränken, auf den Fensterbrettern und den zwei Schreibtischen.
Vorsichtig, am Rand, berührt Maksim die Buchseite, ohne sie vorher anzulecken, wie es viele Erwachsene machen, er hebt sie behutsam an, bis sie senkrecht steht, lässt sie dann sanft nach links herunter gleiten, hält den Atem an, genießt die Vorfreude der Überraschung auf den Inhalt der nächsten Seite. Wieder neigt sich sein Kinderköpfchen über dem geöffneten Buch, sein Gesicht leuchtet, Neugierde widerspiegelnd, die Lippen weiten sich zum Anflug eines Lächelns.
Von meinem Enkel schweift mein Blick langsam durchs Zimmer, bleibt an dem einen oder anderen Buch hängen. So, vor den Büchern sitzend, kann ich meinen Erinnerungen stundenlang nachhängen, mir irgendetwas durch den Kopf gehen lassen. Die alten Bücher hatten für gewöhnlich dunkle Buchrücken, horizontal angelegte, gold geprägte Buchstaben und einen einfarbigen Einband. Die Neuen zeichneten sich durch ihre bunten, großen Lettern, welche sich vertikal am ganzen Buchrücken entlang zogen, aus. Die Alten staubten schneller ein, die neuen waren glänzend und staubunempfindlich. Den Alten haftete ein jahrhundertealtes Geheimnis an, man nahm sie vorsichtig, mit größter Behutsamkeit in die Hände, als befürchtete man, die Buchstaben könnten von ruckartigen Bewegungen, wie Sand durch die Finger rinnen und mit ihnen alles versickern, sich alle geheimen Schriften in Luft auflösen. Die Neuen versprachen die Leichtigkeit der Unterhaltung und leiteten die Gedanken des Lesers in die Zukunft. Man konnte sie hinlegen, wo man wollte, als Untersetzer für eine Vase verwenden, oder sie beim Einschlafen die Nacht über bis zum Morgen einfach unter dem Kopfkissen vergessen. Die Alten lasen sich langsam, mit Pausen zum Nachdenken, und, ausgelesen natürlich, beflügelten sie noch lange die Phantasie des Lesers und beanspruchten seinen Geist. Die modernen Bücher ließen sich an einem Tag verschlingen, oder gar in einer Nacht, hatten kurzlebige Wirkung und gerieten schnell in Vergessenheit.
Alle Bücher in der Bibliothek waren mir wichtig, selbst wenn ich mit einigen leichtfertig umging. Ein jedes von ihnen war mir ein Lehrer gewesen. Und jedes bereitete mir unsägliche Freude. Wehe dem, der es wagte, mich in meiner abendlichen Lesestunde vor dem Schlaf zu stören! Ich las zu jeder Tageszeit, doch gerade die Vollführung dieses allabendlichen Rituals versetzte mich in jenen erregenden Zustand der Ekstase und befriedigte mich an einem Abend mehr als sämtliche Kopulationen, die ich mit den wenigen Männern, welche mich zeitweise durchs Leben begleitet hatten, je erlebt hatte. In Jeden, mit dem ich einst zusammen war, war ich seinerzeit verliebt gewesen. Geliebt hatte ich nur zwei. Nachdem ich mich vom Letzten getrennt hatte, machte ich eine Entdeckung. Ich kann mit einem Mann befreundet sein. Ich kann ohne Sex auskommen. Dafür habe ich Bücher. Wenn ich las, fühlte ich mich mehr Frau, als wenn ich unter einem Mann lag. Wenn ich las, gab ich meinen Gefühlen freien Lauf, ohne dass mir jemand Sentimentalität oder überflüssige Empfindlichkeit vorwarf. Anstatt eines zu meinem Gesicht gewandten Männerrückens, ergötzte ich mich an der Offenheit und Zugänglichkeit des Buches.
Anstelle achtzig Dezibel ohrenbetäubenden Schnarchens, erreichte mein Ohr das kaum vernehmbare Geräusch umblätternder Seiten. Ich hatte es nicht mehr nötig, die Ohren von beiden Seiten mit Kopfkissen zuzuhalten, unter Augenrollen die Schnarch-Beschwörungsformel „Schnarch, Schnarcher-Schnorchel, schnarche nicht, glänze Gurgel. Schnarche, du Pferd auf dem Feld, auf dem weiten Acker, nimm das Schnarchen von Gottes Sklaven (hier muss man den Namen des Betreffenden nennen). Amen.“
An Stelle von Männerschweiß nahm meine Nase wonniglich den feinen, kaum spürbaren, unvergleichlichen Duft von Druckerschwärze wahr– dem besten aller Düfte. Um diesem Ritual seine Krönung zu geben, ähnlich einem Orgasmus, musste ich unbedingt folgende Punkte einhalten:
Die Handlung im Schlafzimmer vollziehen.
Davor unbedingt alle Dinge im Haushalt erledigen.
Den Fernseher ausschalten.
Das Bettzeug und das Nachthemd, sauber und gebügelt.
Mein Körper - gewaschen und nach Möglichkeit nach ätherischem Wachholderbeerenöl riechend.
Ganz wichtig – die Jalousien schließen.
Ideal, wenn sich in der Zeit eine Katze zu meinen Füßen auf die Decke legt, wenn es gar nicht anders geht auch der Hund, das hängt natürlich davon ab, welches Haustier zum jeweiligen Zeitpunkt in meinem Haus lebt.
Am besten, wenn das Buch ein Paradebeispiel für die Kunst der Drucktechnik ist.
Zuerst genieße ich das Buch als Kunstwerk, betrachte die Deckel ausgiebig, berühre sie vorsichtig mit den Fingern, rieche daran. Schon fühle ich mich gut.
Dann ergebe ich mich der Gewalt des Buches und seiner Erzählung. Die Welt bleibt stehen: Es existieren weder Zeit noch natürliche Zusammenhänge – nur ich und das Buch, wie ein einsamer Stern, der durch die Galaxien und den Nebel des Weltalls fliegt.
Ich bemerkte, dass es...